Reisen als romantisierte Konsumfalle?

Reisen Konsumfalle

Vor wenigen Tagen stieß ich auf Facebook über den Artikel „Ich reise, also bin ich?!“ von Jenny aka Weltwunderer. Darin stellt Sie die zentralen Gedanken des Buches „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ von Yuval Hariri vor.

Reisende Konsumopfer

Verkürzt und pointiert gesagt: Wir Reisenden sind kein bisschen weniger Konsumopfer als Menschen, die sich mit schicken Autos, Schuhen und sonstigen materiellen Gegenständen schmücken.

Wir sind nicht die entdeckerischen Globetrotter, die wir vorgeben zu sein. Wir erleben nicht. Wir kaufen Erlebnisse ein, mit denen wir uns auf andere Art und Weise, aber ebenso schmücken. Im Instagram-Zeitalter mehr denn je.

Wir romantisieren ferne Länder und verfallen dem Glauben, unseren Horizont zu erweitern, wenn wir diese bereisen. Stellen uns über die „Daheimgebliebenen“ oder in die Nähe Reisenden. Als würden wir ein Wissen horten, das ihnen verborgen bleibt.

Unsere Heimat – ihre Heimat

Schon lange huscht auf Reisen immer wieder ein Gedanke in meinen Kopf.

Ich sitze am Straßenrand von Hanoi und beobachte mit einem Ca Phe Sua in der Hand das mir fremde Leben. Aber: Für die einheimischen Menschen am Nebentisch ist es nichts anderes als wenn ich mit meinen Kollegen in der Mittagspause ins Restaurant gegenüber verschwinde.

Ich steige ich Paraguay in den bunten Bus, der über die Straßen holpert. Vollgestopft mit Menschen. Für mich ein großes Abenteuer. Für die Kinder neben mir ihr täglicher normaler Schulweg wie für unser großes Mädchen zuhause ebenso.

Ich kann mich erinnern, wie ich als erstes diesen Gedanken richtig fühlen konnte. Ein echter Aha-Effekt für mich. Er nahm mir im positiven Sinn diese Verklärung des Reisens.

Wie oft habe ich – besonders häufig übrigens interessanterweise in Thailand – Menschen kennen gelernt, die das scheinbar öde Leben in der tristen deutschen Heimat verabscheut haben. Und stattdessen das relaxte Paradies unter Palmen glorifizierten.

Nicht zu vergessen: Diese Glorifizierung findet auf dem Rücken der ausgebeuteten Tourismusarbeiter statt. Wir können uns das Reisen in solche Länder locker flockig und lange leisten, weil sie es uns günstig ermöglichen.

Reisen als Flucht

Besonders zu Beginn meiner Reisekarriere als junge Erwachsene, als ich die ersten Länder abgesehen von Deutschland und dem näheren deutschsprachigen Ausland erkundete, nutzte ich das Reisen oft als Flucht. Das war mir damals tatsächlich so in dem Ausmaß nicht bewusst.

Aber war es Zufall, dass ich den wohl brutalsten Liebeskummer meines Lebens auf einer Interrailreise verarbeitete? Immer unterwegs. Kaum mehr als 2 Nächte an einem Ort. Immer neue Eindrücke. Hauptsache in Bewegung bleiben und immer mehr und immer neue Eindrücke.

Und auch die große 6-monatige Reise durch Australien, Neuseeland und Südostasien erlebten meine Freundinnen und ich an der Schwelle zwischen Studium und Beruf. Zu einer Krisenzeit also. Gern nutzte ich diese Reise als Ventil, um diese Unsicherheit vor dem Berufsleben nicht so stark zu spüren.

Ich könnte jetzt dazu noch einiges übers Reisen in der Elternzeit, Reisedrang trotz Coronapandemie oder Reisen als Start ins Rentnerdasein vermuten. Aber das kann auch Küchenpsychologie sein. Ich lasse Euch dies einfach als Gedankenanstoß da.

Sicherlich hat Motivation zu Reisen ganz verschiedene Facetten. Aber ich kann nicht abstreiten, dass das ein oder andere Mal der Faktor „Flucht“ und Romantisierung dessen auch eine große Rolle gespielt hat.

Reisen als Umweltsünde

Im letzten Artikel „Juligedanken“ habe ich mit Euch ein kleines auf Krawall gebürstetes Kaffeekränzchen abgehalten. Immer und immer wieder wird mir auf den Aspekt des „nachhaltigen Reisens“ hier bei der „Reisemeisterei“ vorgehalten, ich dürfe dann ja gar nicht reisen. Jedes Reisen an sich wäre schon fernab jeglicher Nachhaltigkeit.

Grundsätzlich stimmt es: Der Tourismus ist einer der großen Umweltsünden der Neuzeit. Ferienbomber. Hotelburgen. Ewig viele Straßenkilometer während langer Roadtrips. Die Erlebnisindustrie rund um Wassersport, Fallschirmspringen, Minikreuzfahrten, Whale watching und so weiter und so weiter.

Und mir ist das in meinem Reisedrang schmerzlich bewusst. Wir sollten uns da nichts vormachen. Ich nicht. Ihr nicht.

Und jetzt?

So. Reisen als Flucht. Reisen als Umweltsünde. Reisen als soziale Ungerechtigkeit. Reisen als Konsumfalle. Tolle Aussichten. Jetzt alle bitte in die Ecke setzen und schämen.

Gern würde ich jetzt schreiben, wir sollten doch „einfach“ einen sanfteren Tourismus üben. Couchsurfing (hier meine Tipps fürs Couchsurfing als Familie). Reisen nur in die nähere Umgebung (hier mein Artikel „Heimat als Urlaubsziel“). Solche Aspekte sind sicherlich ein möglicher Ansatz.

Allerdings sind Lösungen in den seltensten Fällen linear und eindimensional.

Was geschieht mit den Menschen in Vietnam, die vom Tourismus leben, wenn ich nun ausschließlich mit dem Rad durch das zugegebenermaßen genauso wunderschöne Baden-Württemberg strample?

Dazu ist beispielsweise auch bei mir das Reisen mein Beruf geworden.

Reisen hilft uns tatsächlich und ohne Selbstverar…ung einen empathischeren Blick für die Welt zu gewinnen. Einerseits dankbar für das zu sein, was wir haben. Andererseits von dem was wir haben auch abgeben zu wollen, um einen Ausgleich zu schaffen (siehe meine Artikel „Off to Egypt – Die Müllstadtkinder Kairo“).

Ich denke, der erste Schritt ist, das Reisen nicht zu romantisieren. Oder sich dessen zumindest ehrlicherweise bewusst zu sein. Langsamer, bewusster, weniger reisen. Die wenigen Reisen mehr zu fühlen und weniger abzuhaken. Dazu wäre es mein Wunsch, eine Zeit lang im Ausland zu arbeiten und so nicht nur oberflächlich die Kultur zu streifen.

Ich weiß, das wirkt kurz gedacht und immer noch wie eine billige schnelle Lösung. Aber auch das müssen wir erst einmal hinbekommen.

Kann ich das? Kannst Du das?

Was sind Deine Ideen für ein realistischeres, sozialverträglicheres, umweltfreundlicheres und weniger konsumlastiges Reisen?

5 Comments

  1. Danke, dass du meine Gedanken aufgegriffen und weitergesponnen hast! Da sind auch für mich neue, spannende Ansätze dabei.
    Einfache Lösungen für dieses komplexe Problem werden wir nicht finden, aber es ist doch toll, dass wir es schon mal als solches erkannt haben.

    Viele liebe Grüße
    Jenny

    1. Gern geschehen. Ich kenne solche Gedanken nur allzu gut und bin immer hin und her gerissen. Auch was die Arbeit als Reisebloggerin selbst angeht. Da bin ich durchaus selbstkritisch. Wir können zumindest an Lösungen weiterdenken und einen ersten Schritt tun.

      Herzliche Grüße zurück, Christina

  2. Sehr interessante Gedanken! Ich denke das Reisen mittlerweile ein Statussymbol ist. Wie lange jemand mit möglichst wenig Geld reisen kann, wieviele Länder in X Tagen usw. Ja ich reise auch viel, ich gebe es zu. Auch ich reise bewusster, weit weg nur wenn es für länger ist und mindestens ein bis zweimal in Deutschland (unsere Heimat ist aber auch schön). Wenn ich unzufrieden bin, denke ich an meine Zeit auf den Fidschi Inseln. Dort habe ich die glücklichsten Menschen der Welt gesehen und auch ich war mit sehr wenig glücklich. Ich schaue nicht was andere haben und beneide sie (auch nicht um deren reisen). Einfach glücklich sein im hier und jetzt ist mein Lebensmittel, jeden Moment genießen und dankbar sein. Liebe Grüße, Mandy

    1. Danke für Deinen Kommentar, liebe Mandy. Ja, es kommt doch sehr auf die Haltung beim Reisen an. Für manche ist es zum Wettbewerb verkommen. Ich denke nur an so manche Insta-Spots, die mittlerweile gesperrt werden mussten. Einfach verrückt…Sich von Neid zu lösen ist das Beste, was Du tun kannst. Herzliche Grüße, Christina

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